Sonntag, 6. September 2009

Teil 1

FAZ -Feuilleton vom 25. Juni 2011

Das Literarische Colloquium Berlin ehrt auf dem Autorenkongress im Berliner Adlon das Gemeinschaftsprojekt “Buch ohne Ketten” - ein neues Genre wurde geboren. Mit der Vorstellung des experimentellen Erstlingswerks kamen alle 13 Literaten zur Verleihung des Deutschen Buchpreises in das Nobelhotel am Pariser Platz in Berlin. Alles was Rang und Namen hat, wollte teilhaben an diesem epochalen Ereignis deutscher Literaturgeschichte. Doch nur handverlesenes Publikum fand Einlass und die Gästeliste liest sich wie das „Who‘s Who“ mit Blick auf die bedeutendsten Persönlichkeiten des Öffentlichen Lebens der Gegenwart…

So, oder wenigstens so ähnlich stelle ich mir das Ergebnis unserer Arbeit vor – Gelächter, na ja, man kann ja mal träumen. Obwohl, ganz ausgeschlossen werden darf diese Vorstellung nicht, denn wenn ich bedenke, womit sich so alles Geld verdienen lässt – unglaublich. Da gibt es doch einen jungen Mann der sehr erfolgreich mit einem Ball spielen kann und es allen Behinderungen zum Trotz immer wieder schafft, diesen Plasteball in ein riesiges Tor , welches dem Einfangen von Plastebällen dient, zu bugsieren – mittels seiner unteren Extremitäten oder dem Haupt, oberhalb der oberen Extremitäten. Wirklich krass, dass er damit 1.000.000,00 Euro verdient – Netto, Monat für Monat, und zu Weihnachten gibt es noch ein Milliönchen obendrauf, für Geschenke zum Fest der Liebe.

Warum also sollten wir nicht auch etwas Glück haben und ein bescheidenes Stück vom riesigen Kuchen des Erfolgs abbekommen? Wir spielen einfach mit dem Wort und werfen uns dann verschiedene Bälle zu – eigentlich das gleiche Prinzip, nur nicht ganz so schweißtreibend und daher nicht ganz so anrüchig.

Schluss mit der Spinnerei, jetzt werden erst einmal die Rahmenbedingungen für unser Vorhaben festgeschrieben. Hierfür sind die beiden Initiatoren Sabine Filbrandt und ich selbst verantwortlich. Die Idee hierfür stammt nicht von mir, erst vor einigen Tagen wurde ich auf diese Möglichkeit aufmerksam und fand das ziemlich spannend, als dann noch S. F. spontan an der Sache interessiert war, haben wir sofort Nägel mit Köpfen gemacht und uns im Wesentlichen auf Folgendes geeinigt:

Jeder der Co-Autoren hat max. zwei Wochen Zeit, um seine Gedanken in Worte zu fassen und aufzuschreiben. Mehr als drei DIN A4 – Seiten sollten es nicht sein. Genre, Thema, Zeit, Ort oder Ausdruck sind nicht vorgegeben. Es gibt keinen roten Faden. Jeder ist frei in der Wahl seines Beitrages – ungeachtet dessen, was seine Vorgänger so loswerden wollten. Jeder kann das Gelesene aufgreifen und vertiefen, weiter entwickeln oder in Frage stellen – natürlich auch ignorieren und sich nach einer kurzen Überleitung den vermeintlich wichtigen Themen des Lebens zuwenden. Provozieren wäre auch nicht schlecht – langweilig sein dagegen ist strikt untersagt.

S. F. wird alles hübsch archivieren und die beteiligten Hobby-Literaten auf dem Laufenden halten. Dazu habe ich sie widerspruchslos verdonnert. So bin ich schon einmal fein raus und für nix mehr verantwortlich, außer für den eigenen Senf den ich gleich dazugeben werde, denn sie hat mich dazu verdonnert, ihr den ersten Ball zuzuwerfen. War sonst noch was? Tja, der Umfang der Geschichte ist auch offen. Blauäugig sind so 150 – 200 Seiten angedacht. Wenn sich beispielsweise 15 Leute beteiligen, käme jeder ca. viermal zu Wort, das würde mir persönlich gefallen, so könnte ich mich gegen etwaige – natürlich völlig unberechtigte -Anfeindungen und Attacken immer wieder erfolgreich zur Wehr setzen – andere natürlich auch – ein zu großer Kreis an Mitstreitern würde unser Vorhaben nicht unbedingt erleichtern, darauf will ich aber ebenfalls keinen Einfluss nehmen.

Inzwischen schreibt ja bald jeder zu allen möglichen Themen irgendwas, warum sollen wir das nicht auch tun??? Mit liegt die Zeit am Herzen, auch zu diesem Thema wurden sicher schon ganze Bibliotheken gefüllt, gelesen habe ich davon noch nichts, muss ich ja auch nicht, es geht ja um meine Zeit und nur über die kann ich verfügen – wenn auch nur bedingt. Darf ich erst einmal feststellen, dass unsere Zeit hier endlich ist – das ist wohl nicht ganz neu, aber machen wir uns darüber hinreichend Gedanken? Ich fürchte nicht – schade, wir könnten eine Menge verpassen.

Die uns verbleibende Zeit bewegt sich ja nur in eine Richtung – in die Zukunft und sie ist nur noch von nun an beeinflussbar – wenigstens was die Ereignisabläufe angeht, soweit sie uns und unser Umfeld betreffen. Die Zeit die verstrichen ist, ist nicht mehr beeinflussbar, darum sollten wir ihr auch nicht nachweinen – vorbei ist vorbei. Vielleicht gibt es auch gar keinen Grund ihr nachzutrauern, denn wahrscheinlich war sie gar nicht so schlecht, dies wiederum wäre ein guter Grund dankbar zu sein. Zum Beispiel dankbar für das Glück, genau zu dieser Zeit, genau an diesem Ort, unter genau diesen Rahmenbedingungen leben zu dürfen. Für mich jedenfalls ist das ein guter Grund dankbar zu sein. Vergleiche ich meine Lebensumstände mit den Lebensumständen anderer Menschen, zu anderen Zeiten und an anderen Orten, kann ich einfach zu keinem anderen Ergebnis gelangen. Kein schlechter Ausgangspunkt, um die eigene Zukunft gestalten zu können . Die Möglichkeit, verbleibende Zeit gestalten zu können, ist eigentlich ein unschätzbarer Wert an sich – wenn man sie dann nutzt.

Und was verbleibt uns nun an Zeit? Gottlob steht das ja in den Sternen, aber eine ungefähre Vorstellung davon habe ich schon – ein gefühltes Zeitfenster, ein Zeitfenster, das gemessen an Wahrscheinlichkeiten und gemessen an realistischen Statistiken mehr oder weniger weit geöffnet ist. Natürlich könnte ich mich da furchtbar täuschen, natürlich könnte ich jeden Moment tot umfallen, aber ist das wahrscheinlich, wo ich mich doch eigentlich recht gesund fühle? Soll ich so leben, als wäre der heutige Tag der letzte? Nein danke, das ist nicht anzunehmen und darum werde ich mich wohl auch kaum darauf einstellen. Ebenso blöd wäre zu glauben, dass ich hundert Jahre oder älter werden könnte, das halte ich ebenso für unwahrscheinlich wie den Sekundentod gleich hier auf dem Sofa.

Orientierungshilfe an dieser Stelle bleibt einfach die Statistik die da feststellt, dass Männer im Regierungsbezirk Braunschweig etwa 77 Lenze erleben dürfen, während bei Frauen die Zeit erst nach etwa 82 Jahren abgelaufen ist – wenigstens die Zeit des irdischen Lebens. Alles was darüber hinaus noch möglich wäre, wäre Kaffeesatzleserei und ein ganz anderes Thema – vielleicht für jemanden von Euch.

Zugegeben, die Statistik vermutet weiterhin, dass die verbleibende Zeit länger währt, hat man schon einmal ein gewisses Alter erreicht. Dieser Umstand würde mir wohl zwei weitere Jahre – oder 24 Monate – oder 104 Wochen – oder 730 Tage Bonus auf die derzeitige Restlebenserwartung bescheren, ändert an dem Blickwinkel aus dem geöffneten Zeitfenster heraus aber wenig. Es sei denn, es handelt sich um die letzten 730 Tage, sie würden den Blickwinkel auf die Zeit wohl vollständig verändern – positiv verändern. Warum nicht schon jetzt den Blickwinkel ändern?????

Warum eigentlich ist das Zeitfenster der Mädels deutlich weiter geöffnet, sie leben doch tatsächlich fünf Jahre länger als die Buben und niemanden interessiert, warum das so ist. Na erst einmal ist es nach meinem Verständnis eine Ungerechtigkeit Sonderhausen! Während sich Frauen ja vehement für Gleichberechtigung von Männlein und Weiblein einsetzen, berührt sie diese deutliche Ungleichberechtigung offensichtlich in keiner Weise, beklagt haben sie sich darüber wenigstens noch nicht. Gut genährt, mit vollem silbernem Haarschopf wabern sie bei bester Gesundheit und gut gelaunt in Deutschlands Freibädern umher und genießen allesamt ihre Freiheit und den Umstand, ihre Gatten erfolgreich unter die Erde gebracht zu haben , manche mehrfach – nicht immer, aber immer öfter. Leben vielleicht Single-Buben deutlich länger als ihre verheirateten Artgenossen? Habe ich nicht überprüft, erscheint mir aber wahrscheinlich. Ja, so muss es sein, Ehemänner resignieren einfach nach ca. 50 Ehejahren und hören einfach auf zu leben. Ach, ich hoffe nicht, denn nach dieser Theorie hätte ich nur noch 17 Lenze vor der Brust – oh, oh!

Wieso zum Teufel, nehmen Männer das so einfach hin? Dass Frauen diese Entwicklung nicht beklagen ist nur logisch, aber warum lassen wir uns das bieten und arbeiten nicht dagegen an? Ein Rollentausch fiele mir da spontan ein. Oder man entwickelt sowas wie eine Rente für Früh-Sterber, diese müsste dann nach meiner Schätzung um 25 Prozent der bisherigen Rentenerwartung für Männer angehoben werden, denn deren Rentenerwerbserwartungszeit liegt ja um ca. 25 Prozent unter der Rentenerwerbserwartungszeit für Mädchen. Natürlich könnte man den Damen auch die Rente kürzen, aber das gibt ja doch nur Mecker. Soviel dazu.

So betrachtet, halte ich die uns verbleibende Zeit – weil fortan im Hinblick auf die Ereignisabläufe beeinflussbar – so ziemlich für das Kostbarste was wir haben, ohne sie ist alles nix. Und weil das so ist, überlege ich mir wirklich genau, wie und womit ich diesen nicht genau bekannten Zeitrahmen fülle?!. Übrigens, Zeit spielt sich vor allem im Kopf ab – jedenfalls in meinem. Zeit, die ich so leben kann, wie ich und nicht wie andere das für sinnvoll erachten, ist mir die liebste. Sinnvoll ist für jeden etwas anderes und das ist auch gut so. Es gibt sogar Leute, die ihre Zeit am liebsten mit Arbeit verbringen. Das ist ebenso legitim wie jede andere Möglichkeit, sein Dasein zu fristen. Diese Überlegungen, die dann zu den einen oder anderen Entscheidungsschwerpunkten führen, muss jeder für sich selbst anstellen – niemandem können wir diese Aufgabe abnehmen. Wer nicht darüber nachdenkt und Entscheidungsabläufe mehr oder weniger ungefiltert hinnimmt, treibt eher irgendwo hin und erreicht irgendwann vielleicht ein Ziel, das er nie angestrebt hatte – er hätte ja dann ja auch kein Ziel angesteuert und hätte sich zu oft treiben lassen. Aber auch das muss gar nicht falsch sein. Es hat eben nur alles seinen Preis. Jede Entscheidung hat ihren Preis – früher oder später.

Den verbleibenden Zeitrahmen kann man vielleicht auch etwas ausweiten, inwieweit das nachprüfbar ist, kann ich nicht beurteilen. Aber die Vermutung, dass Leute die sich vernünftig ernähren, sich vernünftig bewegen, genügend schlafen, nicht rauchen, nicht zu viel Alkohol zu sich nehmen und unnötigen Stress vermeiden, nach meiner Einschätzung 5 bis 10 Jahre länger und vor allem gesünder leben als der Durchschnitt der Bevölkerung, dürfte wohl jedem von uns klar sein. Das ist nicht neu, aber wir vergessen das viel zu oft. Es gibt Leute die sagen, „wenn Du gesund lebst, lebst Du nicht länger, es kommt Dir nur länger vor!“ Das hieße ja nichts anderes, als dass ein kürzeres aber genussvolleres Leben besser sei, als ein längeres bescheideneres Leben. Da hätte ich ja auch so meine Zweifel, aber diese Frage muss eben auch jeder für sich beantworten – Hauptsache jeder ist auch bereit, den jeweiligen Preis für diese oder jene Entscheidung zu zahlen, Vor allem steht vor jeder Entscheidung die Frage, was ist mir wichtig. Denn letztlich beschäftigt sich jeder Mensch – ob bewusst oder unbewusst vorwiegend genau mit den Dingen, die ihm wichtig sind – oder wichtig erscheinen.

Da begegne ich einem alten Bekannten, freue mich ihn zu sehen, stelle aber fest, mein Gegenüber ist unruhig und verabschiedet sich von mir mit den Worten: „Tut mir leid, Henning, ich habe keine Zeit.“ Völlig normale Begebenheiten, die uns täglich widerfahren. „Ich habe keine Zeit,“ bedeutet aber nichts anderes, als „ich habe keine Zeit für Dich.“ Auch wenn man die Worte „im Moment“ dazwischen schiebt, fehlt noch immer der Zusatz, „aber ich ruf Dich morgen an, dann nehme ich mir Zeit für Dich,“ und tut das dann letztlich auch. Jawohl, man nimmt sich genau für die Dinge Zeit, die einem wichtig sind, so ist das, und niemand sollte das leugnen.

Wir alle verbringen eine Menge Zeit damit, um zu Wohlstand zu gelangen. Wer hier von Wohlstand spricht, meint in der Regel aber eigentlich immer den wirtschaftlichen Wohlstand. Wohlstand, den man sich kaufen kann. Zeit kann man nicht kaufen, man kann sie sich eben nur einteilen. Ist man vorrangig an wirtschaftlichem Wohlstand interessiert, dann verbringt man die Zeit vorwiegend mit Arbeit, ist man vorrangig an Wohlstand im Sinne von – Gesundheit, Zufriedenheit, Gelassenheit, Ruhe, Zeit für andere und sich selbst interessiert – dann muss man wahrscheinlich auf ein Stück wirtschaftlichen Wohlstand verzichten. Da müssen wir eben auch entscheiden, was uns wichtig ist – oder wichtig erscheint. Fast immer entscheiden wir uns für den wirtschaftlichen Wohlstand – fast alle tun das. Die Gesellschaft selbst definiert den Wohlstand ja auch über den wirtschaftlichen Wohlstand und lässt eigentliche eine andere Wahl gar nicht zu. Hier und da gibt es Lücken, das ist wahr, aber unterstützt wird man bei dem Versuch die Qualität des Lebens an anderen Maßstäben festzumachen nun wirklich nicht.

Dies würde ein Umdenken notwendig machen. Viel zu eingeschränkt ist die Sichtweise im Hinblick auf ein erstrebenswertes Leben im herkömmlichen Sinne. Verzicht kann auch Zugewinn sein. Verzichte ich auf Geld, gewinne ich frei verfügbare Zeit hinzu. Verzichte ich auf Arbeit, können andere an Arbeit teilhaben, verzichte ich auf Nikotin, kann ich meinen Zeitrahmen erweitern, verzichte ich auf Macht, gewinne ich persönliche Freiheit. Und so weiter, und so weiter. Aber Verzicht ist vielleicht schon wieder ein anderes Thema, an dem sich andere Co-Autoren reiben möchten. Mir hat das Schreiben bis an diese Stelle eine Menge Freude bereitet, ich hoffe, das geht Euch ebenso.

Ich bin der kleine König, komme aus Bad Harzburg und heute haben wir den 10. Juli 2010.